Rede des Schulleiters, OStD Joachim Wöllner, anlässlich der Abiturfeier 2016
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
liebe Eltern, Großeltern, Geschwister
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Schülerinnen und Schüler,
liebe Angehörige unserer Schulfamilie,
verehrte Festgäste
meine sehr verehrten Damen und Herren,
nun ist es also endlich soweit, der große Augenblick ist da: Im Rahmen dieser Feierstunde werden Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten von Ihren Tutoren hier einzeln auf die Bühne gerufen werden und – wie es sich gehört – aus den Händen des Schulleiters Ihr Abitur-zeugnis entgegen nehmen. Unsere Aula ist wieder festlich hergerichtet und an den wichtigen Stellen festlich geschmückt. Die Stimmung stimmt – die Temperatur passt; war es doch im letzten Jahr deutlich heißer und irgendwie auch deutlich drückender … zu dieser Zeit – an die-ser Stelle. Ich sprach damals – unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsche – über die Größe eines Augenblicks und über die Bedingungen, unter denen dieser sich ereignen kann. Keine Angst, ich werde diese Rede jetzt nicht wiederholen, nur so viel will ich anmerken: Dieses bestimmte Thema lag damals irgendwie in der Luft, zumindest habe ich es so empfunden, und so passte es denn auch recht gut zur Abiturfeier 2015.
Heute aber scheinen es mir andere Themen zu sein, die besonders präsent sind, die sozusagen in der Luft liegen und uns als Zeitgenossen und Zeitgenossinen berühren und beschäftigen. Ganz besonders scheint es mir ein Themenpaar zu sein, das sich hier und heute regelrecht aufdrängt. Es lässt sich beispielsweise in dem finden, was wir „Flüchtlingskrise“ nennen oder im „Brexit“, es durchzieht die Fußballeuropameisterschaft in Frankreich ebenso wie – direkt hier bei uns – die zurück liegenden Abiturprüfungen am LMG; es war erlebbar bei den schriftlichen Prüfungen in der Hirtenwiesenhalle, bei der Eröffnung der Prüfungsergebnisse in unserem Mehrzweckraum und erst vorgestern bei den abschließenden mündlichen Prüfungen in den Räumen im Untergeschoss unserer Schule:
Hoffnungen, Erwartungen einerseits – Enttäuschungen und Resignation andererseits; hier: unbändige Freude, ja: Jubel über einen errungenen Sieg oder eine neu gewonnene Lebensperspektive, da: gesenkte Köpfe, hängende Schultern, Tränen der Enttäuschung – manchmal gar der Verzweiflung: zwei Seiten einer Wirklichkeit, zwei Seiten einer Zeit… unserer Zeit…
Und wie man sich als besonnener Mit-Mensch natürlich mit jedem Höhenflieger mit-freut, ihm aber auch zurufen möchte: Du, Ikarus, flieg nicht zu hoch!, so leidet man eben auch mit mit dem Enttäuschten und tief Traurigen – und möchte ihm doch auch zugleich sagen: In jeder Krise, in jeder Niederlage – so bitter sie auch sein mag – steckt immer auch eine Chance…!
Ganz leicht übertragen lässt sich dies natürlich auf die Fußball-Europameisterschaft, wo in der Regel nach einer Niederlage und einem frühen Ausscheiden zuerst bittere Enttäuschung herrscht, doch dann allmählich – nach angemessener Zeit – über eine Neuordnung nachgedacht wird, über einen Neustart. Neue Konzepte für die Zukunft werden voller Energie entworfen, die doch letztlich in der Niederlage ihren eigentlichen Ursprung haben.
Auf dem Feld der Politik, im Zusammenhang mit der Europäischen Union, spricht man inzwischen offen von einem notwendigen „Reset“ – einem Neustart der EU, nicht um Krise und Versagen zu ignorieren oder gar schön zu reden, nicht um abzulenken, um zu betäuben, sondern gerade als Folge der Enttäuschungen und Erschütterungen! Auch hier scheint es, als hät-te der Wille zu einem Neustart, zu einem neuen Aufbruch unter Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ideale seinen eigentlichen Grund, seinen Ursprung mitten in der Krise der EU – der schwersten ihrer Geschichte…
Und auch auf dem Feld der so genannten „Flüchtlingskrise“ lässt er sich wiederfinden, dieser irgendwie fast schon geheimnisvolle Umstand, dass aus krisenhaften Situationen Neubesinnung und Neuausrichtung hervor gehen können. Wie sehr wurden uns doch – durch die zehntausenden Flüchtlinge – die Grenzen des Machbaren aufgezeigt – bis hin zum „Es geht nicht mehr!“ – was einer offenen Kapitulation gleichkommt. Und wie sehr wuchs und wächst die Rückbesinnung auf unsere gemeinsamen Werte, die zum Ausgangspunkt wird bei der Entwicklung neuer Konzepte und neuer Strukturen, die dem Ideal der Mit-Menschlichkeit dauerhaft Geltung verschaffen sollen.
Gerade auf diesem Hintergrund freue ich mich als Leiter dieser Schule – und in bin auch ein wenig stolz darauf, dass das LMG ab dem nächsten Schuljahr beteiligt sein wird an diesem Neustart – im ganz bescheidenen Rahmen natürlich – nämlich wenn wir eine Flüchtlingsklasse haben werden, mit jungen Menschen – voraussichtlich überwiegend aus Syrien, die auf ihrer Flucht vor Krieg, Zerstörung und abscheulichster Gewalt bei uns in Crailsheim angekommen sind und denen wir eine menschenwürdige Lebens- und Lernumgebung anbieten können. Für diese Jugendlichen wird es genauso ein Neustart sein wie für uns – eine Bereicherung wird es für uns allemal, eine Horizonterweiterung, die uns bei unserer eigenen Selbstbestimmung mehr als hilfreich sein kann – und somit auch als Beitrag zur Überwindung unserer eigenen Krise angesehen werden muss.
Auch dieser „Reset“ geht übrigens zurück auf pure Ratlosigkeit, auf Verzweiflung, denn am Anfang stand ein Hilferuf der Stadt Crailsheim, die nicht mehr wusste, wie sie der krisenhaft zugespitzten Lage noch Herr werden sollte, was sie tun sollte – angesichts der hohen Zahl von Flücht-lingen im Kindes- und Jugendalter, die in Notunterkünften zum Teil über Monate hin – zusammengepfercht auf engem Raum – zwar grundversorgt und in Sicherheit waren, die aber eines nicht konnten, was der Mensch genauso zum Leben braucht wie Nahrung, Kleidung und ein sicheres Dach über dem Kopf: Lernen dürfen! Kurzum: Eine Krisensitzung wurde einberufen – mit Herz und Verstand wurden Überlegungen angestellt und Neuerungen beschlossen, die nun – Gott sei Dank – umgesetzt werden.
Und jetzt fragen Sie sich, liebe Festgäste, vielleicht, was denn dies alles mit unserer Abifeier zu tun hat, ob denn Niederlage, Krise und Verzweiflung die richtigen Themen für eine Feierstunde sind – schließlich sollen ja im Rahmen dieses Festakts Zeugnisse und Preise ausgegeben werden, es ist doch, so gesehen, die Feier-Stunde der Erfolge und Siege, in der völlig zurecht viel Licht nicht nur auf diese Bühne fällt!
Aber ist es denn nicht irgendwie auch schade, dass gerade hier kaum über Niederlagen geredet wird! Verstehen Sie mich nicht falsch: Es wird weder heute noch künftig eine Ehrung der Jahrgangsschlechtesten geben und keinen Buchpreis für die größte Enttäuschung! Natürlich sollen hier und heutet Erfolge im Mittelpunkt stehen, es soll gelobt und geehrt werden, es soll Raum sein für ein Dankeschön und natürlich soll voller Freude gefeiert werden!
Ich meine nur, dass es doch auch in solchen Stunden recht angemessen wäre, wenigstens einen Moment inne zu halten, um zu erkennen, dass nicht wenige Triumphe letztlich aus Niederlagen hervorgehen, dass Gipfelstürmer – oft aus Niederungen kommend – unter wachsender Anstrengung nach oben streben und Höhenflüge immer in unmittelbarer Bodennähe beginnen oder noch tiefer.
Es ist und bleibt eine Wahrheit, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt! Und so gesehen wäre es geradezu fahrlässig und töricht Ihnen am Ende meiner Abiturrede das mit zu geben, was so gerne in Poesiealben geschrieben wird, Sie kennen das Sätzlein sicher alle:
Mach es wie die Sonnenuhr – zähl die heitren Stunden nur!
Nein! Es würde doch ganz verborgen bleiben, was so offensichtlich zum Leben gehört – und was so offensichtlich Teil seines ureigenen Geheimnisses ist. Goethe hat es in vollendete Verse gebracht und in unser aller Poesiealbum geschrieben, als stete Mahnung, die zugleich unendlich viel Mut macht und Zuversicht spendet- sowohl in Stunden des Triumpfes als auch in Momenten der Niederlage:
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Diesen einen Gedanken würde ich Ihnen, liebe Abiturienten und Abiturientinnen, heute am Ende meiner Rede gerne mit auf Ihren Weg geben. Er soll Sie begleiten auf die – hoffentlich zahlreichen – Höhen, und sollten Sie sich doch einmal in einem tieferen Tal befinden, so bin ich mir sicher, kann er ihnen Wegweiser und Wegzehrung in einem sein, ein unschlagbar wirksames Mittel gegen jede Art von tiefer Trübsal:
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Also: pflegen und hüten Sie diesen Gedanken – wie einen Schatz, wenn Sie morgen früh – mit ihrem Reifezeugnis unter dem Arm und vielleicht ein wenig übernächtigt die Welt erobern gehen…